Die Kritik der türkischen Soziologin Pinar Selek auf Tabuthemen in der Türkei
Die Kritik der türkischen Soziologin Pinar Selek auf Tabuthemen in der Türkei © mustafa kutsal / freeimages.com

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Ich widersetze mich! Pinar Selek – Türkische Soziologin und Menschenrechtlerin

Die türkische Soziologin Pinar Selek wird aufgrund ihrer Unterstützung für die kurdische Bevölkerung seit 1998 verfolgt und musste ins Gefängnis. Obwohl sie mittlerweile im Exil lebt, wird sie immer noch strafrechtlich verfolgt. Eine Verhandlung ist für September 2023 angesetzt.

Die türkische Soziologin Pinar Selek setzt sich trotz harter Repressalien für Tabuthemen in der Türkei ein und zeigt offen ihre Unterstützung für die unterdrückte kurdische Bevölkerung.

Aufgrund ihres Engagements musste sie bereits 1998 zweieinhalb Jahre im Gefängnis verbringen. Auch nach ihrer Freilassung wird sie weiterhin von einem Strafverfahren verfolgt, das bis heute anhält. Im September 2023 steht erneut eine Verhandlung an. Renate Maurer hat Pinar Selek im französischen Exil besucht, wo sie sich mittlerweile aufhält.

Pinar Seleks Vater ist ein bekannter linker Anwalt und ihre Mutter betreibt eine Apotheke. Ihr Zuhause in Istanbul ist ein Treffpunkt für Intellektuelle und Menschenrechtsaktivist:innen. Bereits mit neun Jahren erlebt Pinar Selek nach dem Militärputsch von 1980, wie ihr Vater verhaftet wird und ins Gefängnis muss. Diese Erfahrung lässt sie Fragen nach Gerechtigkeit, Freiheit und Glück für alle stellen, welche sie fortan auf der Straße such, bei den Straßenkindern, Prostituierten und Transvestiten.

Während ihres Studiums der Soziologie gründet Pinar Selek gemeinsam mit ihnen die "Werkstatt der Straßenkünstler". Sie setzt sich somit aktiv dafür ein, dass auch benachteiligte Gruppen in der Gesellschaft Gehör finden und unterstützt werden. Trotz aller Widerstände bleibt sie ihrem Engagement treu und kämpft unermüdlich für eine gerechtere Welt.

Im Juli 1998 wurde die 26-Jährige Pinar Selek verhaftet, als sie im Rahmen einer Studie über die Bedeutung von Gewalt für Kämpfer der kurdischen Untergrundorganisation PKK recherchierte. Trotz Folter weigerte sie sich, die Namen ihrer Interviewpartner preiszugeben. Im Gefängnis wurde ihr vorgeworfen, im Auftrag der PKK eine Bombe auf dem Ägyptischen Bazar platziert zu haben, bei der sieben Menschen starben und 127 weitere verletzt wurden. Der einzige Belastungszeuge widerrief bald darauf seine Aussage, die unter Folter erpresst worden war. Von mehreren Gutachtern wurde festgestellt, dass die Explosion von einer defekten Gasleitung stammte.

Nach zweieinhalb Jahren Haft kam Pinar Selek frei und wurde 2006 vor Gericht freigesprochen. Jedoch kassierte der Oberste Gerichtshof das Urteil ein. Es folgten drei weitere Freisprüche und deren Aufhebung durch das Kassationsgericht, sowie schließlich eine Verurteilung zu lebenslanger Haft. Dieser Fall von Justizwillkür zog sich jahrzehntelang hin, bis heute ist keine endgültige Entscheidung gefallen. Die nächste Verhandlung soll im September 2023 stattfinden.

Nach ihrer Entlassung aus der Haft im Jahr 2000 engagierte sich Pinar Selek stark in der Frauenbewegung und setzte sich für Antimilitarismus, die Rechte der Kurden und Armenier ein. Sie verfasste erfolgreiche Bücher über Themen wie Gewalt gegen Transvestiten und Transsexuelle in der Ülker Straße, das Scheitern der Friedensbewegung der Linken sowie die Rolle des Militärdienstes bei der Entwicklung türkischer Männlichkeit. Im Jahr 2009 wurde ihr erster Freispruch vom Kassationsgericht aufgehoben und eine lebenslange Haftstrafe gefordert. Daraufhin floh sie ins Exil nach Deutschland und lebt seitdem als "Writers-in Exile-Stipendiatin" des PEN in Berlin, später in Straßburg und Nizza.

Pinar Selek hegt keinerlei Hoffnungen auf politischen Wandel in der Türkei. Die Regierung Erdogan versprach in ihrem Wahlprogramm die Demokratie, die jedoch vom "tiefen Staat" vereinnahmt wurde, einschließlich Geheimdienst, Mafia und Ultrarechten. In den letzten 20 Jahren hat die islamische Gesellschaft durch Bildungsarbeit muslimischer Bruderschaften deutlich zugenommen. Obwohl die Regierung Erdogan wechseln kann, sind ihre Übel tief im türkischen Staat verwurzelt. Es gibt eine über 100-jährige Indoktrination der Gesellschaft, die nicht schnell geheilt werden kann.

"Ich widersetze mich! Pinar Selek – Türkische Soziologin und Menschenrechtlerin" im Überblick

Ich widersetze mich! Pinar Selek – Türkische Soziologin und Menschenrechtlerin

von Renate Maurer

Produktion: 2023

Sendezeit So, 21.04.2024 | 18:00 - 19:00 Uhr
Sendung hr2-kultur "Feature"
Radiosendung